Der Künstler als Kaffeesatzleser (März 2020)

Die Pandemie und die Zentralschweizer Kunstszene. Ein Orakel.

2023

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Zum Glück geht die Arbeitslosigkeit im 3. Quartal zurück. Die Vorsteherin des Volkswirtschaftsdepartements gibt sich zuversichtlich, dass sie innert Jahresfrist auf 15% sinken wird. Auch sei mit  einem Abflachen der Zunahme der Staatsverschuldung zu rechnen, die Sparmassnahmen beginnen Wirkung zu zeigen. Trotz Erhöhung des Steuerfusses sind die Einnahmen allerdings immer noch weit unter dem Niveau von 2019. Eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer sei aus Rücksicht auf den langsam anziehende Privatkonsum keine Option. Das Platzen der Immobilienblase hat zu tieferen Mieten geführt, die Lage vieler Haushalte bleibt dennoch prekär.

Seit Monaten verleihen die «Schweizerdemokraten» ihren Forderungen mit dem «Freitags-Trichlezug» lautstark Nachdruck. Um dem Ruf nach sofortiger Schliessung des «elitären und volksfremden sogenannten Kunstbetriebs» weniger Angriffsflächen zu bieten, verzichtet das Kunstmuseum auf grosse Wechselausstellungen internationaler Positionen und nutzt die Räume für eine gediegene Dauerpräsentation der Sammlung. Mit dem Pfyffersaal wird die Verwurzelung der Kunstgesellschaft in der Luzerner Geschichte unterstrichen. Calame, Zünd und Turner verleihen den Räumen des 19. Jahrhunderts einigen Glanz.

Der Pilatussaal wird immer noch für zwei jährliche Wechselausstellungen genutzt. Kürzlich hat ein junges Künstlerkollektiv mit seiner kaum verklausulierten Kritik an der «Handypflicht» –zum Schutz der Volksgesundheit ist jedermann zum Mitführen eines Smartphones mit Trackingapp verpflichtet – für mehr Aufmerksamkeit gesorgt, als dem Museum lieb sein kann.

Die Jahresausstellung findet 2019 zum letzten Mal statt. Im Jahr darauf wird sie erneut ausgeschrieben, muss dann aber abgesagt werden. Nach mehreren Neuinfektionen muss der Lockdown für alle nicht systemrelevanten Betriebe verlängert werden. 2021 erfolgt die erste Budgetkürzung und weil die anderen Zentralschweizer Kantone ihre Beiträge nicht mehr leisten, lässt das Kunstmuseum «mit grossem Bedauern» verlauten, dass man «bis auf weiteres» auf die Ausrichtung verzichten müsse.

Im ganzen Land werden die Budgets für Kunstankäufe und Werkbeiträge auf symbolische Beträge gekürzt und fast alle Auslandateliers aufgegeben. Nach der Änderung der Verordnung über die Verwendung des Lotteriefonds entfällt im Kanton Schwyz die Kunst- und Kulturförderung vollständig.

Der Bund macht eine seltene Geste der Solidarität mit unserem durch Corona-Krise und Zusammenbruch der Eurozone besonders hart getroffenen südlichen Nachbarland und hält am Instituto Svizzero fest.

Wie viele andere erkennt Visarte Zentralschweiz die Tragweite der Krise erst spät. Sobald er wieder Tritt fasst, solidarisiert sich der Verband mit seinen älteren Mitgliedern, die als Risikogruppe das Haus kaum mehr verlassen dürfen und denen, die bereits früh Einkommen verlieren. Diesen beizustehen, wird vom Vorstand als Kernaufgabe eines Berufsverbands verstanden und zügig in ein Unterstützungs- und Beratungsangebot umgesetzt. Während des Lockdowns sucht Visarte nach Möglichkeiten, die Isolation der Kunstschaffenden zu durchbrechen und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. In den in nie gekannter Heftigkeit ausbrechenden politischen Verteilkämpfen ist Visarte eine klare Stimme und verteidigt mit grossem Engagement die Kunst. Leider meist erfolglos.

Unter den Zehntausenden Corona-Toten sind auch etliche Visarte Mitglieder. Dass der Mitgliederbestand stark schrumpft, ist aber vor allem eine Folge der wirtschaftlichen Not. Viele Jüngere müssen jetzt so viel Zeit auf die Erwerbsarbeit verwenden, dass sie für die Kunst keine Zeit mehr finden. Die empfindlichen Rentenkürzungen – der Börsencrash und die Mindereinnahmen bei den Berufstätigen trifft die Kassen massiv – macht den Jahresbeitrag zu einer Auslage, die sich manche nicht mehr leisten können. Wegen ausbleibender staatlicher Unterstützung muss die Teilzeitstelle der Geschäftsstelle Ende 2021 abgebaut und das Dienstleistungsangebot stark reduziert werden.

Die Kulturredaktion der Luzerner Zeitung wird im Herbst 2020 wegen fehlenden Veranstaltungen und Inseraten auf 25% Stellenprozent gekürzt. Wenig später müssen 041 und Kunstbulletin zuerst die Printausgabe, ein paar Monate später auch das Online-Angebot einstellen.

Nach mehreren Offspaces muss auch die Kunsthalle das Handtuch werfen. Der Raum wird von der Kette «Zoo4You» übernommen, die einen Teil der Fensterfront durch ein riesiges Aquarium ersetzt. Nebst Zierfischen kaufen die Leute, die viel Zeit zu Hause verbringen, auch gerne Goldhamster.

Jetzt, wo sich nach langem wieder ein paar Touristen zeigen, sieht man auf dem Schwanenplatz die Staffeleien von Malern, die Bilder von Kapellbrücke, dem wunderschönen Panorama und dem weltberühmten Löwendenkmal anbieten.

[März 2020, kurz nachdem der Schweizer Bundesrat den 1. Lockdown verfügt ]

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